Ein gesprochenes und ein geschriebenes Wort


Teil 1

EIN GESPROCHENES UND EIN GESCHRIEBENES WORT
BEFANDEN SICH IN EINEM ZUGABTEIL


EIN MANN, DER DAS ABTEIL BETRAT,

SETZTE SICH AUF DEN FREIEN FENSTERPLATZ,
DEM GESCHRIEBENEN WORT GEGENÜBER


STEH SOFORT AUF! RIEF ES UNTER IHM.

ER SPRANG EMPOR, SAH DAS GESCHRIEBENE WORT
FRAGEND AN UND SETZTE SICH EINEN PLATZ WEITER.

DANKE! TÖNTE ES VON DEM PLATZ ZURÜCK.


"Sie hatten sich auf das gesprochene Wort gesetzt!" höhnte das geschriebene Wort mit ungeduldiger Schadenfreude.
Der Mann wunderte sich, aber schon grollte das gesprochene Wort: "Denken Sie, mich hat eine Frau hier vergessen! Sie hat das Wort ihres Mannes einfach überhört! Und ihm war soviel daran gelegen es ihr zu sagen, aber sie schüttelte sich, erhob sich von Ihrem Platz und verließ das Abteil. Ihr Mund spuckte mich noch einmal verächtlich aus und mit einer flachen Handbewegung schleuderte sie mich auf diesen Platz. Hier liege ich nun und warte, daß mich jemand mitnimmt."

"Was bedeutest du, ein paar zerbrochene Buchstaben, auseinandergefallen, die wirr auf dem Sitz herumliegen. Damit hast Du deine Bedeutung verloren. Pah "LIEBE", bei dem Wort denke ich an Blumen, Bienen, Zärtlichkeit. Liebe verblaßt, Blumen verblüh'n und Zärtlichkeit kann in Boshaftigkeit umschlagen. Nicht einmal das schönste Wort hat Bestand! Nicht einmal der schönste, anmutigste Anblick einer Biene über duftenden Blüten. Wer vernichtet! Nicht ich, das Leben ist es, das Böse. Ich bin nur ein Wort unter Worten. Wie alle, die wir eingekeilt sind in unsere Bestimmungen, eingespannt in das, was wir vertreten. Aber auch in mir lebt Hoffnung. Zwar wiederhole ich mich auch immer wieder aus mir heraus, wie alles, was lebt, erstarre in Gleichgültigkeit. Durch Unachtsamkeit kann ich mich vernichten. Dann geht auch das Gute verloren, vernichtet sich mit mir.
Soll es! Ewig wird es sich nicht erneuern können. Ich kann doch stolz sein, werde ich doch alles Überdauern! Darum habe ich keine Eile, eure Ablehnung zu verteidigen.
Sie hat dich schließlich weggeworfen, weil er dich ständig "abgeschnitten" hat. Ist es nicht so? Gesprochene Wörter kann man fabelhaft mit scharfen Gesten abschneiden.
Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein "WORTABSCHNEIDER" - bis sie schließlich aufgab und dich wegwarf."

"Und du bist simpel, Wort, das aufgeschrieben werden muß! Aufgeschrieben, weil du sonst nicht existierst. ich möchte nicht an deiner Stelle stehen. Dich kann man auslöschen, zerreißen, verbrennen, mich hingegen ständig neu formen. Ich wachse in die Gedanken der Menschen hinein, mich kann man ausbauen, erweitern, teilen, zusammenfügen, du aber existierst nicht, wenn du nicht gelesen werden kannst.
Außerdem bist du ein gräßliches Wort! Stolz kannst du wahrhaftig nicht sein, hast keinen Grund dich aufzublähen. Aus dir kommt Vernichtung und Tod. Mit deiner Menschenverachtung rottest du noch jegliches Leben auf Erden aus!"

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