Eine Traumgeschichte, Teil 4

"Du lügst!" schrie die Schöne hochmütig und böse. "Meine Schönheit wird niemals vergehen. Ich werde dir zeigen, wie vergänglich du bist, wie schnell dich alle vergessen und wie wenig du geliebt wirst, bist du erst welk und unansehnlich!"

"Was gescheh’n soll, soll gescheh’n, ich will ganz allein besteh’n!"

"So werde ich dich vernichten!" und sie umfasste den Stengel, brach ihn ab, und verletzte sich an den Dornen.

Die Rose sagte:

   "Sieh das Blut an deiner Hand.
   Nichts hat neben dir Bestand.
   Selbst die Dornen, die mich schützen,
   können ewig mir nichts nützen.

Wohin hat deine Unvorsichtigkeit, dein Übereifer dich gebracht? Du kannst nicht die Grenzen des Unmöglichen überschreiten wollen. Du solltest deine vergängliche Schönheit mit Würde tragen, dich freuen über diese göttliche Gnade."

"Du trügerisches Biest!" zürnte sie, dein Falsch ist schlimmer und hinterhältiger als mein Aufbegehren gegen alle Vergänglichkeit – das habe ich deinen Worten und deiner Bosheit entgegenzusetzen – und mit schrillem, sich überschlagendem: "Du lügst, du lügst!" riß sie ein Blatt ums andere heraus.

Unter den herausgerissenen Blütenblättern aber schoben sich dunkelrote, mit schwarzen Punkten überstreute Papierblätter hervor.
Die Frau aber stritt und zupfte so lange, bis alle samtenen zarten Blätter nur noch aus hässlichem, knisterndem Papier bestanden.

   "Und nun sag mir, wer dich noch lieben kann!
   Kannst du das?" triumphierte sie.

Vermessen, sich mit einer Rose messen zu wollen, seufzte diese knisternd im Wind und neigte sich schwer zur Erde. Wie böse musst du erst sein, wenn ein Mensch dich an Schönheit übertrifft, wo du meine bescheidene Pracht schon als störend empfindest?"

Sie richtete ich langsam wieder empor: "Du bist eine Närrin, anstatt deine Schönheit zu genießen, hast du sie gewaltsam zerstört, denn bei jedem Blatt das du mir herauszogest, gruben sich Falten in deine Haut und jeder Punkt, den du auf meinen Papierblättern entdeckst, hat sie vertieft.
Deine schwarze Seele hat dein einst frohes und gütiges Herz verschlungen.
Deine Augen strahlten vielfältig wie diamantene Tautropfen in der Morgensonne. Es ist falsches Gefunkel wie gewöhnliche Glassplitter, denn auch sie glitzern im richtigen Winkel zur Sonne. Hochmütig schnittest du mit ihnen Narben in aller Herzen."

Wie die Rose so spricht, öffnet sich die Pforte und eine alte, gebeugte Frau nähert sich auf dem Kiesweg.
Voller Freude und Glück rannte die eben noch streitende dieser mit weit auseinander gebreiteten Armen entgegen.
Die Alte aber blickt an ihr vorbei und schreitet unbeirrt weiter auf das Haus zu:

   "Ich möchte zu meiner Tochter, sie hat nach mir gerufen." sagt sie.
        "Aber erkennst du mich nicht? Ich bin deine Tochter!"
   "Meine Tochter ist das schönste Mädchen, du aber – und sie holt einen Spiegel hervor, -
   kannst unmöglich meine Tochter sein!"

Die einst so schöne Frau erschrickt, wie sie sich so im Spiegel sieht.
Das Gesicht, der Körper, das Haar, das in wirren, verklebten Strähnen auf den Schultern lastet. Böse, unbekannte Augen starren ihr entgegen; Tränen, die auf die Erde tropfen, fressen dunkle Löcher hinein.

Während Farbe und Runzeln sich tiefer und tiefer in die Haut eingraben, starrt sie aus dem Fenster auf die allmählich verbleichende Papierrose. Das Haus und die Erde sind längst von den Tränen verbrannt, sogar die Luft scheint entwichen zu sein.

Gramvoll sieht sie, wie der zerstörte Rosenstock zu neuem Leben erwacht.

Sie sitzt heute wirklich noch dort. Aber wer traut sich auch, nur den kleinsten Blick hinüber zu werfen? Die Leute gehen ängstlich, mit gemischten Gefühlen vorüber.
Dabei ist gewiß jemand unter ihnen, der sie würde erlösen können...


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