ONKEL OTTIS TÖTEN ALLE ROTEN MEISEN


Eine Traumgeschichte, Teil 1

Eine apfelförmige Sonne mit herausragendem Apfelstiel, spiegelt sich zu meinen Füßen im See; der Horizont nah, verschwommen, reflexlos, lichtüberflutet; Spiegel ohne Spiegelbild, Spiegelbild ohne Motiv.

Meine Schritte bewegen die Erde, meine Bewegung rieselt Erde über das Spiegelbild, das zitternd auf der Oberfläche zerspringt; Scherben, mit tausend gleißenden Klebestellen sinken auf den Grund, flüchten in den Sand, bohren sich in die Böschung; entgleitende Gedanken – ich lasse sie im Gesträuch, mein Weg führt an ihnen vorbei.
   Als der Polizist sich auf sein Motorrad schwingt, fährt er direkt auf mich zu, hält neben mir, legt seine Hand auf die Schulter des Jungen, dem ich die Münze mit dem Loch gab. "Wissen Sie", sagt er nach langem Schweigen, "auch wenn es langweilig in Hannover war"...er spielt auf etwas an, was in Hannover geschehen sein mußte. Ich überlege, ob ich dort eine Lesung hatte, die er langweilig fand. Leute sammeln sich an, er lamentiert mit seinem Block herum, um zu zeigen, daß er unbestechlich sei: “Und wenn sie das schönste blonde Haar hat!” beteuert er laut und schreibt.
   Ich renne davon, schüttle die Verfolger ab, nehme die Abkürzung durch eine fremde Wohnung. Im Flur bügelt eine Frau, der ich schnell zurufe, daß es um ein Schwein , das geschlachtet werden soll, geht. Mit einem Anlauf springe ich durchs Fenster auf regennassen Asphalt.
   Ein Bettler sitzt am Straßenrand, schüttet aus einer schwarzen Tasche Geld auf die Straße. Neugierige, die lachend herumstehen, machen sich über ihn lustig. Aber schon ist eine Abgrenzung für ein Auto mit Panne geschaffen, was ich höchst raffiniert von ihm finde. Ein Laster, in dem auch ein Polizist als Beifahrer sitzt, schiebt sich langsam über alles hinweg, Dabei handelt es sich um ein gestohlenes Auto, das mit dieser Falle gefunden werden soll.
   Ich bewundere den Bettler, der das Leben versteht, verachte die Lacher, die nichts weiter verstehen, als ungewöhnliches mit hämischen Bemerkungen abzutun.
Sie lachen anderen ein schlechtes Gewissen an, gehen in ihre Häuser, stellen krumme Behauptungen an, mit denen sie zum Glück nichts zu tun haben. In ihren Köpfen drehn sich pausenlos allerlei Zahnräder mit nur einer intakten Zacke.
   In einem Höhlennest aus Beton, direkt an der Straße, tötet eine grünliche Schlange einen Erpel. Verzweifelt versucht er, sich zu wehren, aber seine Kraft reicht nicht mehr aus. Traurig und unentschlossen steht die Ente mit den Jungen und jemand fragt, wie sie nun zurechtkommen wird. "Nicht mehr so lustig wird es sein", sagt sie müde, "aber irgendwie werde ich es schaffen."
   An Puppen muß ich denken, an Puppen, die ich einst hinter mir herzog; an Kinder, die lange klein bleiben, bis sie sich endlich groß gestrampelt und groß gezappelt haben. An Müdigkeit, unausweichliche Hindernisse, Enge und Seiltanz mit hohlen Körpern.
   Ich löse ein Stück Packpapier, das ich im Herbst um Dahlienköpfe gewickelt hatte. Im Unterholz hüpft eine Vogelmutter mit ihren Jungen, die so winzig sind, daß ich mehrmals hinsehen muß. Sie leben in einer Kakteenmulde, zupfen an Halmen, kuscheln sich ein, aber nun werden sie größer, mit gesprenkelten Köpfen, ähnlich Eulen. Jemand polstert das Nest mit Eulenfedern aus und zieht zum Schutz gegen Feinde Stacheldraht.
   Ein mageres, blaues Baby mit herabhängender Nabelschnur, fällt unvermittelt in einen hohen Bottich. Trügerische Stimmung tropft vom Dach, auf dem ich Karbonade zerklopfe, um zu beschwichtigen; ich weiß, sobald ich mit dem Klopfen aufhöre, ist der Friede verflogen.. Drum hau ich wie besessen drauf, den Krieg hinauszögernd, den Frieden verlängernd, mit jedem Schlag. Und die Karbonade breitet sich zu einem hauchdünnen Flatschen aus, durch den die roten Ziegel hindurch schimmern.
   Eine Frau stochert mit einem langen, dünnen Stab in meinem linken Hüftknochen herum, sagt hysterisch: "Ja, stark krebsgefährdet, wir müssen eine Spritze geben!"
Rechts in der Ecke, in einem Rollstuhl mit dem Gesicht zur Wand, sagt ein älterer Mann böse: "Ihr mit euren Abfällen!" "...auch in den Bauch", sagt sie und rafft meine Brüste zusammen, hebt sie an, nickt bedeutungsvoll aber traurig mit dem Kopf und ich denke unwillig ... da auch? Dann überreicht sie mir sorgfältig ein gut verpacktes Baby in einem Korb. Und ich habe endlich eine Wohnung gefunden. An Decken und Wänden hängen Spinnwebnetze. In einer Pfanne liegt ein großes Knäul Fliegen, deren Flügel mich an fliegende Ameisen erinnern. Das Knäul nehme ich heraus aus der Pfanne, aber als das Fleisch gebraten ist, kleben noch welche daran.
Für die Treppe will ich einen schwarzen Teppich häkeln, nehme Maß, verlasse den erleuchteten Raum, gehe einen langen Flur entlang, will Schuhe kaufen, doch aus einer geöffneten Tür schweben weiße Wolken, die mich augenblicklich an Rene Magritts Bilder erinnern. Eine Wolke schwimmt heraus, dreht sich abwärts, scheint durch eine Spindel gezogen, ich fange sie auf, stelle fest, daß sie durchsichtig und weich, aber fest und starr ist.
   Im Treppenhaus vergaß man Türen einzubauen, die nun nachträglich ausgesägt werden müssen. Als wir die Wohnung verlassen, sagt meine Mutter : "Laß uns die Peilluken noch öffnen!" und wir nehmen die Holzstangen. "Nun", sagt sie: "die Frauen, die mit verdienen, haben wenigstens etwas vorzuweisen, aber wer nimmt die Frauen, die Kinder großziehen schon ernst!" Wir stoßen die in die Wände eingelassenen Blechluken auf, durch die der Feind am fernen Himmel auszumachen ist. Und das würgende Gefühl steigt wieder in mir hoch, wie damals, als man mich einen parasitischen Staatsschädiger schimpfte.
   Ausgebreitet auf braunem Packpapier liegen Puzzelteile, aus denen hin und wieder Motten aufsteigen, die ich mit einem Tempotuch zerdrücke.


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