AUF DEM EISBLUMENHÜGEL


Das Leben läuft an einem vorbei,
wenn man nicht täglich anhält,
sich damit zu beschäftigen !


20.05.04

Die Insel, auf der sie leben, besteht aus zwei Ebenen: aus einem selbstgebauten Schmetterling und aus einer HöhleEisblumenhügel aus Kälte und Eis.
Die Kälte und das Eis lassen den Schmetterling nicht fliegen, sie schnappen beißend nach den buntgezackten Schwingen.
Wo ist die Liebe geblieben, die sie nie genossen haben, nur schnell seelenlos abgefertigt, phantasielos, flüchtig. Ohne wärmende Berührung.
Er stäubt Schnee, daß sie von ihrer Insel in seine Höhle rutscht.
Vor seiner Höhle stehend, will sie mit ihm sprechen. Erhält keine Antwort, nur das Echo ihrer Fragen schallt verstärkt zurück und sie merkt, daß sie viel zu laut gesprochen hat, um Gehör zu finden. Erschöpft schwingt sie sich wieder auf ihre von endlosen Erschütterungen gestörte Insel und hofft jedesmal vergebens, das nächstemal Gehör zu finden.
Und sie fliegt auf ihrem Schmetterling durch die Tage wie durch dunkle Tunnel.
Er zertritt mit festen Schritten, sie bessert aus, er zertritt, schlägt Tastfühler ab, sie kittet und repariert oh`n Unterlass.
Und sie läßt ihn fliegen, den schönen warmen Schmetterling mit dem pochenden Herzen. Und sie fühlt sich manchmal wie ein Kind, dessen Eltern ihm ein Plakat um den Hals gehängt haben mit der Aufschrift

"WACHSEN VERBOTEN"

Der Mann mit dem Eisblumenmund stülpt seine verächtlichen Blicke über sie, versperrt Wege mit Pfeilspitzen, die ihr Herz durchbohren, daß sie den Boden unter den Füssen verliert, sich aus den Augen verliert, sich vergißt, den in lähmende Ketten gehüllten Körper.
Sie solle nicht klagen, sagt er, wenn sie ihn mit auf ihre Insel locken will, weil es ihr auf seiner nicht gefällt. Manchmal hat es den Anschein, als wolle er tatsächlich die Saat, die sie mitbringt, aussäen. Als wolle er die Eisblumenfelder mähen, umpflügen, aber er wirft sie schließlich doch nur wieder achtlos in Eisspalten.
  Stolz zeigt er seinen Besitz. Den Lohn seiner Mühen. Ein Allerheiligtum ohne Schrammen, Staub, Leben, ja, ohne störendes Leben, ohne Bewegung . . .

Seinen gläsernen EISBLUMENHÜGEL

Seine Blicke, die wie Eiskristalle auf sie losschießen, hinterlassen dunkle Höhlen in seinem Schädel, fegen ihn leer. Aus der Bewegung seiner Hand, die in die Ferne zu deuten scheint, rieselt und rieselt es weiter, bis sie unter einer Schneedecke begraben liegt.

Sie sucht das Gefühl einer gleitenden menschlichen Ordnung in allen Fragen.
Warum haben Fische Schuppen - damit sie zusammengehalten werden oder damit sie schwimmen können?
Miteinmal weiß sie, daß jede Schuppe ein erstarrter Gedanke ist. Erstarrt, steckengeblieben, eine nicht beantwortete Frage, die ins Fleisch schneidet. Jeder Fisch in enendlichen Meeren mit unzählbaren Schuppen eine Verschwendung menschlicher Gleichgültigkeit. Häufte man sie, ergäben sie einen Berg bis zum Mond. Aufgeschichtete, glitzernde Stufen, kristallisierte, bizarre schuppige Kämme. Von einem Gehirn hinaufgleitende Gedanken auf totgleißende undurchdringliche Masse.
Wünsche, zerschellt an Marmorwänden. Mehr weiß sie damit nicht anzufangen.
  -Sie sinkt von ihrem Schmetterling, stürzt bäuchlings in eine Eismulde, erstarrt zur Eisblume. Haucht sich aus. Klänge dringen aus unbekannten Fernen, umschweben sie wabernd. Als sie die Augen aufschlägt, hat sich der Schmetterling beschützend über sie gebreitet, hat sie gerettet, gewärmt.
Umgeben von einem unendlich duftenden Blütenmeer, macht sie sich sofort eifrig daran, den gebrochenen Flügel zu reparieren . . .

DER ALTE INSELHÜTER
Der alte Inselhüter, auf seiner Runde, fragt: "Reparieren Sie schon wieder einen Flügel?"
"Ja," sagt sie und schaut zu ihm hinunter. Dabei denkt sie, schade, daß seine Mutter ihn nicht so sehen kann und schickt ein Lachen in sein zerfurchtes Gesicht.
Schade, daß Eltern nicht erleben können, was aus ihren Kindern geworden ist, wenn sie 80 oder 100 Jahre alt geworden sind!

Und das macht sie traurig.
Es ist nicht die Traurigkeit über etwas Vergangenes von letzter Woche, von vor 10 oder 100 Jahren - es ist ein Gefühl von etwas ewig Verlorenem.
"Und der andere Flügel" fragt er zögernd: "Die Eisblumen werden ihn abfrieren!" Er deutet mit einer ausholenden Handbewegung über das Eisblütenmeer - sicher hat er sich weiter ausgebreitet - es ist fast keine Erde mehr sichtbar, wie wollen Sie den Winter überstehen? - kehren Sie lieber in die Höhle zurück!"
Sie schüttelt sich, daß der Schmetterling schwankt: "Nein, ich pflanze hier überall Gräser die mich wärmen, sammle Laub, unter dem ich mich verkrieche." ruft sie lachend.
Und sie fliegt auf den getarnten gläsernen Berg ihrer Erinnerung.
Der alte Inselhüter muß weiter. "Nächsten Monat komme ich wieder vorbei, grüßt er freundlich winkend, daß sie wieder denken muß, wie schade es ist, daß seine Eltern nichts mehr von ihm wissen.
Dabei nimmt sie sich vor, ihn nach ihnen auszufragen und hält ihn augenblicklich auf, weil sie wenigstens schon etwas wissen muß.
Aber er erinnert sich kaum noch an Einzelheiten: "Die Hälfte meines Lebens ist mir auch schon verloren gegangen!" verteidigt er sich.

"Sie sollten längst in den Ruhestand gagangen sein" sagt sie.
"Ja" antwortet er "Ja -
Wenn das meine Mutter sähe
käme sie aus dunkler Erde
suchte sorgend meine Nähe
auf daß Besserung mir werde

Wenn das meine Mutter sähe
wie ich alt und kränklich bin
würd mich in die Arme schließen
meine müde Stirn mir küssen ...

Doch die Kindheit ist vorbei
Alle Träume längst vergangen
Auch mein Herz bricht bald entzwei

Sie beruhigt ihn mit tröstenden Worten, als er davonschlurft
und denkt: Wer um alle Leben wüßte,
                  die im Leben rasch vergeh'n
                  Wenn sie nach Leben leben sähen
                  In ihrer längst Vergänglichkeit

So ist das Leben wohl, denkt sie, als er gebeugt davonschlurft. Es wird vergessen und vernichtet. Wenn es der eine nicht macht, macht der andere es vielleicht um so gründlicher. Und wenn man es nicht täglich hervorholt um sich damit zu beschäftigen, läuft man daran vorbei.
Nun ist er ganz klein geworden, fast unsichtbar; vor dem bizarren Gesträuch der Eiskristalle ein kleiner dunkler hüpfender, gestaltloser Fleck.
   DAS LEBEN LÄUFT AN EINEM VORBEI, WENN MAN NICHT TÄGLICH ANHÄLT, SICH DAMIT ZU BESCHÄFTIGEN.

Eisblumenhügel

Irgendwo, an irgendeinem Punkt, zu irgendeiner Zeit, geht das Leben zu Ende.
Wehmut breitet sich aus, als sie dem kleiner werdenden Inselhüter nachschaut.
  Zum Zeichen seiner Anwesenheit hat sich etwas Wärme und Ruhe auf dem Weg unter ihren Füssen ausgebreitet, und sie beginnt über den Hügel zu laufen, rundum, kreuz und qwer; jauchzend, Gras unter den Füssen spürend, Warme spürend, spürend wie der Schnee schmilzt, wie Eiskristalle sich auflösen und tropfenden Tränen gleich an Grashalmen herabperlen.
Mit ausgebreiteten Armen schwebt sie wie eine Wolke, breitet sich über dem Hügel aus und läßt Gedanken in ruhiger Gelassenheit auf sich einströmen.

Der Eisblumenmund küßt sie ungnädig wach, und schon steht der Tag als gebuckelter Feind vor ihr, der seine Finger staksig nach ihr ausstreckt und sie nach Bedarf in dunkle Ecken schnippst.
  "Was hast du mit meinem Hügel gemacht!? donnert er erbost.
Sofort ist sie wieder ganz klein, geduckt und verschämt, schwingt sich wütend auf ihren Schmetterling, doch sie kann dem Schnee, den er nach ihr wirft nicht mehr ausweichen.
Er zerrt sie in seine Höhle und tadelt: "Du hast lange genug geträumt, sei endlich still !"
Sie will etwas entgegnen, schreien, um sich schlagen, flüchten . . . .
"Ich brauch meine Ruhe !" fährt er sie ungerührt an, ablehnend, unbeteiligt, fremd. Und das Fremde an ihm ist das einzig Vertraute, an das sie sich erinnert.
"Du brauchst den Himmel und die Blumen nicht !" sagt er, sie vorwärts drängend, tiefer in die Enge treibend, bis sie in einer dunklen luftleeren Ecke stecken bleibt.
   GEHORSAM BEGINNT SIE, EISBLUMEN VON DEN WÄNDEN ZU KRATZEN, DIE SEIN ATEM SPRIESSEN LÄßT.


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