Mir ist, als wär's gestern erst gewesen


Hast du die Liebe gesehen und das Glück? fragt ein kleines Mädchen die alte Frau am Wegrand.
Sie kamen hier vorbei, aber das ist lange her!
Welche Richtung haben sie genommen? will das Mädchen ungeduldig wisssen.
Ja - - was weiß ich, sie scheinen überall zu sein, nur nicht bei mir, antwortet die Alte traurig. Früher standen sie als Blumen am Wegrand, oder flogen als Vögel durch die Lüfte.
Mir ist, als wärīs gestern erst gewesen!
Hier, Kind, nimm eine Stückchen Stoff von meinem Rock, ein Zipfel steht für die Liebe, das andere für das Glück.
Und das Mädchen beeilt sich, in die Welt zu gehen.

Hast du dein Glück gefunden, will die Alte wissen, als das Mädchen nach Jahren wieder vorüber kam. Nein, sagt es, das passende Stück Glück habe ich nicht finden können und riß sich heimlich vom anderen Ende des Rockes ein größeres Zipfelchen heraus.
Das sollte mir wohl zum Glück verhelfen! riefīs fröhlich und zog seiner Wege.
Es klopfte bei den Vögeln in den Lüften an: Hier ist das Lieschen mit dem Zipfelchen, habt ihr das passsende Stück Glück dazu und habt ihr die Liebe gesehen?
Nein, zwitscherten diese, so zusammengefügtes Glück kennen wir nicht, uns ist es Glück, wenn wir reichlich Futter für uns und unsere Jungen finden.
Sie klopfte bei den Fröschen im Teich an: Hier ist das Lieschen mit dem Zipfelchen, habt ihr das passende Stück Glück dazu und habt ihr die Liebe gesehen?
Quak, Quakquak riefen sie wild durcheinander. Aber das Glück ist kein Quark! schalt es die dummen Frösche aus. Quak, Quakquak bekam es wieder zur Antwort: Insekten und faulenzen ist unser Glück, soviel Quakquakquak für uns.
So stieg es schließlich zu den Kumuluswolken empor, zeigte die Zipfelchen und wollte wissen, ob ihnen vielleicht die passenden Stücke des Glücks dazu begegnet seien.
Glück! ach Glück! riefen sie, Glück ist, daß endlich so ein Menschenkind zu uns kommt, um mit uns kuscheligen Schäfchen zu spielen!
Sie drückten und herzten es und dabei entfiel das Glückszipfelchen ihrer Hand und schwebte zur Erde. Oje, nun werde ich das passende Stück Glück wohl niemals finden! jammerte es und eilte auf die Erde zurück. Aber zum Glück hab ich ja noch das kleine Zipfelchen für die Liebe!
Sie stieß auf eine Herde Rindviecher, die das Zipfelchen auf den Hörnern herumwarfen.
Gebt es mir zurück! bat es.
Unser Spielzeug? Wir sind froh, endlich ein so schönes Spielzeug gefunden zu haben!
Es ist mein Glückkszipfelchen, ich bin auf der Suche nach dem passenden Stück Glück, seid ihr ihm begegnet?
Indem kam ein Adler geflogen und fing es im Fluge auf.
So kam das Mädchen einige Jahre später wieder an der alten Frau vorbei und erkundigte sich, ob ihr die Liebe begegnet wäre.
Mir ist manchmal, als wärīs gestern erst gewesen, aber das kann kaum sein, denn ich habe fast keine Erinnerung mehr an Glück und Liebe und auch nicht an die Erinnerung.
Das Mädchen kam zu den Ameisen, aber die kannten so ein Stück Glück und so ein Stück Liebe nicht, das von einem Stück Stoff abhängig sein sollte, außerden waren sie viel zu beschäftigt mit ihrem eigenen Glück und ihrer eigenen Liebe, als sich mit ihr darüber zu unterhalten.
Nun lief sie hinter den Bienen her, die von Blüte zu Blüte flogen. Emsig, emsig, Glück ist emsig! summten sie. Der Specht hämmerte: Glück ist Klopfen! Die Fliege summte: Glück ist Summen!

Und dann war das kleine Mädchen auch schon eine alte Frau am Wegrand.
Ein kleines Mädchen kam vorbei und wollte wissen, ob sie die Liebe gesehen hätte und das Glück.
Mir ist, als wärīs gestern erst gewesen!
Sie steht als Blume am Weg, sie rauscht in den Bäumen, es ist ein singender Vogel, ein Lachen, das sich ins Herz senkt, es ist die Sonne am blauen Himmel, der Mond in der Nacht, sie ist eine jagende Wolke, ein flüstern des Regens ...
Und sie fand keine Worte mehr für das, was sie jahrelang gesucht hatte.
War es nur das Wort? War das Wort das Glück? oder das Glück das Wort?
Sie fragte die Worte des Glücks nach dem Sinn ihres Glücks, aber sie sagten nur: Das Wort Glück, bedeutet nicht Glück, du mußt es leben.


Idee vonī86


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