Das Blechmädchen


Zu dieser Geschichte finden Sie hier eine von mir gestaltete Illustration.


Es zählt längst nicht mehr, aber trotzdem ist es noch vorhanden. Oder nicht? Hier, halb verborgen unter Glas, Holz und anderen modrig riechenden Gegenständen.
In der Sekunde des Sturzes, sie erinnert sich genau, gewahrte sie ihre Vernichtung als etwas Unabänderliches, etwas unbeschreiblich Unausweichliches, denn der Stein, der über sie fiel, preßte ihren Körper auf ewig bewegungslos gehalten, in diese dunkle Höhle, und ihr Gesicht auf eine Flasche, deren schillerndes Grün wie gesiebtes Licht eines Laubwaldes noch wie ein Blitz in ihr Bewußtsein drang, bevor sich der Korken hart und schmerzhaft in das draufstoßende Auge bohrte ...
Schrille Kinderstimmen, zerrende Hände, eilende Füße, die sich entfernen, näherspringen, um sich dann wieder in der Weite zu verlieren.
Ein leichter Schritt, ein Schatten, der in den Spalt rutscht, eine warme Hand, die sich um eines der verrosteten Gelenke legt, an der Flasche rüttelt, den Stein, der dieses Etwas gegen die Flasche preßt, beiseite schiebt und vorsichtig, vorsichtig dieses Etwas ins grelle Sonnenlicht hebt.

Ein Blechmädchen Ein Blechmädchen! ruft der Junge staunend und wischt sorgfältig Sand und abblätternde Farbe von den scheppernden, feuchten Gelenken, legt es behutsam ins Gras und ordnet die verrenkten Glieder an den schmalen Lederbändern. Der Wind zerrt das Spitzenröckchen mit sich fort.
Wer das wohl gebastelt hat, murmelt er, und so unachtsam weggeworfen ...? Er seufzt und neigt sein Gesicht ganz dicht an das kleine, beschädigte Auge - verstehst du das?

Der Himmel des Lebens, das war eine Zeit voll Musik und rauschender Seiden, voll raschelnder Kreppschals und knisternder Atmosphäre; das war buntes Lachen auf abgegrenzten Rasenstücken zwischen Zirkuswagen und dröhnendem Applaus. Wirbelnde Arenaspäne mitsamt der Tiere und Akrobaten. Du bist eine Seiltänzerin wie ich, sang Melanie, und führte mich über das Seil - ach, das war eine Zeit! Meine schöne Melanie! Meine schöne Melanie lag eines Tages zerschmettert im Arenasand,
ich im Mülleimer.

Es gab kein Ziel mehr, weißt du, und Hoffnung allein bringt keine Voraussetzung für Vollkommenheit. Ich hätte etwas tun müssen, aber was - ohne das Mädchen?
Nun liegī ich hier. Ratten schieben ihr fiepsendes Maul herein. Kinder suchen nach Brauchbarem.
Alte Männer wühlen - wer weiß wonach. Nach anhaltendem Regen, der bis ins Innerste sickert, kocht die Sonne wieder und wieder angesammeltes Wasser in den Mulden der Gelenkflächen, brennt rostige Löcher bis inīs Körperinnere. Nur zu einer bestimmten Tageszeit, wenn die Sonne aus einem gewissen Winkel herabsengt, ist diese Höhle eine funkelnde grüne Flamme, die sogar durch die feinsten Rostlöcher dringt.
Ach, das sind köstliche Minuten, die beinahe "an den Himmel des Lebens" erinnern!

Er pustet in ihr leeres Auge, schüttelt braunrostiges, übelriechendes Wasser heraus. Das asthmatische Scheppern erinnert ihn an die Rasselbänder seiner Schwester, wenn ihre Händchen mit unermüdlichem Eifer an die bunten Plastikkugeln schlagen.
Du wirst jetzt versuchen, zu laufen, beschließt er, und zieht an den ziellos herabhängenden, hoffnungslos verknoteten Schnüren.
Ich bin hoffnungslos verknotet, wiederholt sie seine geäußerte Möglichkeit einer nichtgegebenen Zukunft - und streckt lahm das Glied eines Armes empor. Schlapp baumeln ihre Gelenke - das ist sehr, sehr anstrengend, glaub mir - gern würdī ich wieder tanzen! Ein Bein versucht einen Knicks.

So hoffnungslos verrostet - und klebe so wunderbar an deiner wärmenden Hand!
Neidisch, mit lauten Rufen, fallen die ausgeschwärmten Kinder in seine ruhige Welt. Von allen Seiten strömen sie trampelnd auf ihn zu - ein stürzender Vogelschwarm, der sich nach kurzen Alleinflügen zusammenballt, über ihn herfällt ... - Mensch, was hast du gefunden - eine Blechpuppe - zeig! o, toll - laß anfassen - eine Marionette, funktioniert die noch ? - hast du ein Glück! - gib mal - gib doch mal! - laß mich auch mal ...

EIN GANZ KLEINES GEMEINSAMES GLÜCK FÄLLT AUSEINANDER .

Kreischend und bolzend stieben sie davon - ein Schwarm keifender Möwen, zerfließend, zerreißend, im Gesträuch auseinanderfallender Marionettenglieder ...
Er wirft die Flasche auf den Stein, sieht dem Korken nach, der, endlich befreit, mit einem hastigen Satz neben das Blechgesicht springt. Ihm ist, als quelle eine Träne aus dem Auge, und als flüstere der Mund etwas von einer ziellosen Ewigkeit.
Mit einem Aufschrei stemmt er sich in den Himmel, federt den Hang hinunter über die Bahngleise - tiefer und tiefer.
Wirft sich auf die Wiese und drückt sein Gesicht in kleine, duftende Blüten.


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