Das Adventsgesteck und Großvaters Brillenetui


Traumszenen

Advent

Das krokodillederne Brillenetui meines Großvaters lag neben dem Adventsgesteck, dem großen "Stammtisch-Aschenbecher" und der Fußsalbe Vascularin, welche mein Vater für seinen verzerrten Fuß benötigte, auf dem Stubentisch.
Meine Mutter räumte die Stube auf, wollte das Etui eben in den Schrank legen, als das Telefon klingelte. Die geöffnete Schranktür in der Hand, stellte sie mit einem raschen Blick fest, daß es nirgendwo abgelegt oder zwischengeschoben werden konnte, ohne daß es herausgerutscht wäre, hätte der nächste die Tür geöffnet. Hastig schob sie die Tür wieder zu, eilte zum Telefon hinüber, und legte im Vorbeirennen das Etui auf den Tisch.
Da lag es nun höchst unbequem auf herausstechenden Nadeln. Ein anderer Nadelarm schlang sich über das Leder zum Öffnungsbügel.
Das Etui war ein sehr verwöhntes Etui. Großvater hatte es stets sorgfältig geöffnet, in ein weiches Tuch gehüllt, wenn er es verschloß, bevor er es in einer angenehm dunklen, wohlriechenden Schublade ablegte.

Jetzt lag es auf dem Tisch herum oder auf dem Schrank. Manchmal auf dem Sofa, was angenehmer war, als einfach achtlos hinter die Schranktür gestopft zu werden zwischen Glaskannen für Sommersäfte, gestapelte Aschenbecher, Eierplatten, auf deren Vertiefungen es unmöglich war, Rückgrat zu bewahren; oder zwischen Zigarettenschachteln und leeren, aber noch brauchbaren Feuerzeugen.
Ja, der Großvater hatte es respektvoll, sogar liebevoll behandelt. Wie wohl fühlte es sich auf der weichen Decke neben dem Tabakspäckchen und dem Pfeifenständer.
Manchmal, wenn er vergaß es zu schließen, konnte es über den Rand des Rauchertabletts gucken und die blitzenden Gegenstände in aller Ruhe betrachten, wobei ihm das Rascheln der Zeitung die Erinnerung welkenden Laubes oder knisternden Grases, über das vorsichtige Füsse liefen, vorgaukelte.

JA, BEI GROSSVATER WAR ES SCHÖN!

..... es mußte niesen. Die Nadeln stachen in den schönen Rücken und hingen frech vor der Nase herum. Es nieste noch einmal, und schwupp - sprang der Deckel mit Schwung auf, daß es hoppla, fast das Gleichgewicht verloren hätte. Mit gähnendem Maul lag es nun da, durchdrungen von Tannenduft, den es begierig einsog, durchstochen von Tannennadeln, die sich durch den roten Filz tief in den Rachen schoben. Wieder reizte das Gekitzel zum Niesen. Es wollte sich zur Seite beugen, aber der Nadelarm hielt es fest umschlungen, stach sich tiefer ins Innere, so daß es fürchterlich niesen mußte und alles ringsum erzitterte - verschluckte sich vor Schreck und Verzweiflung und begann die Nadeln, die nicht aufhörten sich tiefer zu bohren, hinunterzuwürgen.
Es würgte und würgte, hustete und hustete, wurde die Nadeln einfach nicht wieder los, sosehr es sich auch anstrengte, schluckte und schluckte; verschluckte das Weihnachtsgesteck mit der leuchtend roten Kugel, die mit lautem Knall zerplatzte; verschlang die Kerzen, die sogleich in seinem Maul zersplitterten und schmolzen; verschlang den goldlasierten Untersetzer mitsamt der drei sperrigen Beine, die rote Decke mit den gelben, aufgestickten Kerzen und Weißen Christrosen, das weiße Tischtuch, fraß die Marmorplatte des Tisches wie eine Scheibe Leberkäse, wobei sich die gedrechselten Beine in sein gieriges Maul schraubten; verschlang die Sessel, das Sofa, den Teppich, das Büfett, den Fernseher, das Aquarium, die Bilder von den Wänden: "Oh nein, nicht Mamas Bilder, nicht die!" und hüllt das ganze Zimmer in Dunkelheit.

Glas zerspringt und knirscht, Rahmen zersplittern. Die Milchkannen mit der Bauernmalerei, die rot- und silbergoldene: "Mein Gott, wenn das Vater sieht!" In diesem Höllenlärm dröhnt das Zermalmen der Kannen wie die Wagenladung, die Urgroßvater im Wettbewerbs- und Bierrausch eine Böschung hinabgaloppierte, wobei er wild auf den alten Gaul einschlug: "Weil das verdammte Viech nicht von der Stelle kommt!"
Mama schlürft genüßlich heiße Milch mit Honig, List und Entzücken im Blick: "Mit Tauben sollte der alte Klepper um die Wette fliegen, mit Schnecken konnte er es höchstens aufnehmen - ha! - na, er flog dann schließlich wie eine Taube, aber abwärts! - Vater hat mir vorgemacht, wie Urgroßvater mit Pferd und Wagen kopfüber die Böschung runterpurzelte - soooooo - das hättest du sehen sollen ---!" ...

Wie eine Nebelschwarte verschwindet die Gardine in seinem Maul, und wieder knirscht und zerspringt Glas mit lautem Getöse. Augenblicklich hat es das Haus mit dem Garten und den Bäumen verschluckt, frißt sich unaufhaltsam weiter von Haus zu Haus, von Garten zu Garten, Baum zu Baum....

Aufgeregtes Stimmengewirr schwingt sich über die Hecken mir entgegen. Irgendetwas stimmt da nicht, irgendetwas ist geschehen! Angst und Neugierde treiben mich voran, mein Ranzen ist hinderlich, ich werfe ihn ab, renne und renne wie gejagt mitten in das Stimmengewirr hinein - ..... alle Nachbarn stehen händerringend, laute Schreie wirr durcheinander rufend vor nichts, auf das sie gebannt starren. Große Ratlosigkeit in verzweifelten Gesichtern:

Mütter schreien nach ihren Kindern und Männern,
Männer nach ihren Frauen und Kindern,
Kinder nach ihren Eltern und Großeltern.

Sie laufen hilflos umher, zeigen dahin, wo ihre Häuser und Gärten waren, und werden - schwuppdiwupp - alle auf einmal verschluckt von dem riesigen verfressenen Ungetüm ...
... ich erschrecke, denn nun sehe ich das übergroße Brillenetui meines Vaters, das sein rotes Maul vollstopft, endlos vollstopft, was seinen Weg kreuzt. Ein Koloss, ein Ungeheuer ...
Als es mich erkennt, schiebt es sich auf mich zu, streichelt, mit dem Deckel klappernd, mein Gesicht, schiebt sich, weiterhin alles verschlingend, weiter.

Bleib stehen!"
rufe ich verzweifelt: "So bleib doch endlich stehen!"

Aber es hört nicht auf mich, sondern schiebt sich auf dem kürzesten Weg zum Friedhof, legt sich auf Großvaters Grab, und weint.
Ich tätschle es, will, daß es mit nach Hause kommt, aber plötzlich verschlingt es auch mich.
Seine Zähne schlagen sich in meine Wangen, von den abgerissenen Ohren fließt Blut über mein Kleid.
Ein Feuer bricht aus. So unvermittelt, daß ich mich nicht rühren kann. Flammen zersprengen Mamas Zimtgläser. Der Zimt wächst zu einem Berg heran, höher und höher, wächst in den Himmel; von wütenden Flammen umwuchert, schleudert er dröhnende Signale in die Luft. Ein Steppenbrand auf dem Zimtberg, der wild entschlossen in die Walnußschüssel rieselt, bis die Nüsse explodieren .....

DIE WORTE MEINER MUTTER:

"Oh, du bist eingeschlafen!" wecken mich.
Sie hält ein Streichholz an die Kerze, sagt: "Ach, das Etui, ich wollte es gerade weglegen, als das Telefon klingelte!" Nahm es, und stopfte es zwischen die Salatplatten im Schrank.


Zum Seitenanfang Zur nächsten Geschichte